Mein Vater ist vor einigen Wochen im hohen Alter von 89 Jahren gestorben.
Keine Sorge, es gibt hier keinen langen Nachruf auf ihn, das ist bei einem Monument von Menschen wie ihm kaum möglich. Der Pfarrer hat es bei der Auferstehungsmesse hervorragend zusammengefasst.
Aufgrund seiner zahlreichen Erkrankungen, von denen keine für sich isoliert betrachtet tödlich war, wohl aber zum Schluss die Überforderung des Körpers mit dem Gesamtpaket aus Leiden – die Mediziner sagen wissenschaftliche kalt Multimorbidität – ist er nach über eineinhalb Jahren strammer Bettlägerigkeit bei klarem Verstand und zu Hause friedlich eingeschlafen, ein sukzessives Organversagen bis hin zum letztendlichen Atem- und Herzstillstand.
Erwartet auch kein langes Lamento über die Unzulänglichkeiten des deutschen Gesundheitssystems, vor allem während der Pandemie, in der jeder Nichtcoronapatient zum nachgeordneten Patienten zweiter Klasse wurde. Ein Coronaopfer ohne je Corona gehabt zu haben war mein Vater im letzten auch.
Ich könnte Bücher über die Zustände in Notaufnahmen und Krankenhäusern im Allgemeinen- selbst katholischen – schreiben, über Urologen, die ihre Patienten im Stich lassen, über arrogante Rettungsdienste, über alle möglichen anderen Ärzte, über den stieseligen und lügenden Dortmunder Polizeiarzt Dr. Puhlvers, der meiner Mutter zweifach dreist und – wie sich herausstellte, offenbar mit vollem Kalkül, denn dann hatte er sie nicht am Hals – ins Gesicht gelogen hat (sterbt nie am Wochenende, wenn euer Hausarzt nicht greifbar ist, um den Totenschein auszustellen, denn eure Angehörigen, die euch jahrelang liebevoll und aufopfernd zuhause gepflegt haben, werden pauschal erstmal zu potentiellen Mördern gestempelt, und frustrierte Polizeiärzte, die am Wochenende anscheinend lieber die Füße hochlegen anstatt ihre Arbeit gewissenhaft zu machen und sich billig aus der Affäre stehlen und keinen Bock haben, am Samstagabend ewig lange Krankenakten zu studieren: Soll doch die Staatsanwaltschaft am nächsten Tag die Arbeit machen, denn so kassiert man als Polizeiarzt Honorar für quasi Nichtstun…) aber das tue ich nicht, denn den Todeszeitpunkt bestimmt kein Arzt. Das Leben liegt in den Händen Gottes, nicht in den Händen der Ärzte. (Mein Tipp: Wenn ihr eure Alten umbringen wollt, schiebt sie ins billigste Pflegeheim ab, das geht schneller und ist bequemer, als sein eigenes Leben vorübergehend an den Nagel zu hängen und für den Kranken da zu sein. Sowas Ähnliches habe ich auch der Polizei erzählt. Dumme Blicke, das wars.)
Wie oft schon hatte ich meinen Vater im Geiste beerdigt, wenn er wieder wegen eines Leidens mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus musste, wie viele unzählige Nächte und Tage haben wir um ihn gebangt. Immer wieder mal, schon vor 10, 15 Jahren. Ich habe eine sehr lebhafte Fantasie, und es braucht nicht viel, um sich eines von hunderttausend möglichen Sterbeszenarien vorzustellen. Wie oft kann man um jemanden trauern? Alle sagten mir, dass es nochmal etwas völlig anderes sei, wenn er dann tatsächlich stürbe.
Nein, ist es nicht, das kann ich aus Erfahrung nun frei heraus behaupten. Von mir, es mag bei jedem anders sein. Es war nur noch der äußere Vollzug, ein Endpunkt einer unausweichlichen Ereigniskette, auf den wir uns lange vorbereitet haben, aber vor dem es mir auch graute – völlig zu Unrecht, wie sich herausstellen sollte, denn dieser Tod hatte nichts Schreckliches oder Verstörendes.
In den letzten Jahren habe ich persönlich eine enorme Wandlung durchlaufen. Wenn ihr dieses Blog regelmäßig verfolgt, wisst ihr, dass ich als Christin meinen Glauben völlig neu entdeckt und gefunden habe, dass Gott sein verlorenes Schaf gesucht und dann auch gefunden hat, eine Wiedergeburt.
Der Tod meines Vaters war seitdem die härteste Prüfung, und ich kann heute mit Bestimmtheit sagen, dass meine frühere Trauer in Wahrheit nur eine Variante von Selbstmitleid und Ichbezogenheit war, denn ICH habe ihn nicht mehr, ICH kann ihn nicht mehr umarmen, ICH kann ihn nicht mehr fragen, ICH kann ihn nicht mehr sehen, ICH kann ihn nicht mehr hören – vorübergehend.
Und DAS ist der entscheidende Punkt: VORÜBERGEHEND!
Mein Vater ist nun bei Gott, dort geht es ihm besser als je irgendwann einmal auf der Erde, er kann wieder sehen und hat keine Makuladegeneration mehr, er kann wieder laufen und hat kein Hüftleiden mehr, vermutlich kann er sogar fliegen und durch Wände gehen, wie Jesus. Wir werden ihm gleich sein, hat er uns versprochen. Um meinen Vater brauche ich nicht zu trauern, denn er war ein gläubiger Christ, und deswegen bin ich mir so absolut sicher, dass er den Freifahrtschein in den Himmel längst gelöst hatte. Was könnte ich ihm denn Besseres wünschen? Sein Leiden ist vorbei, Halleluja!
Ich bin gewiss, dass wir uns dort nach meinem Sterben wiederhaben, für immer. Deswegen gibt es da keine Trauer, allenfalls Wehmut, eben jene Selbstbezogenheit, von der ich oben sprach, aber in sehr milder Form.
Wenn ich nur einen Augenblick darüber nachdenke, wie vernichtend der Tod für Atheisten sein muss oder für lauwarme Gläubige, verstehe ich die große Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, der sich viele Menschen angesichts des Todes gegenübersehen. Ich könnte so nicht leben, ich würde mich vermutlich auf der Stelle umbringen, denn was soll dann dieses ganze Leben hier auf der Erde? Alles Leiden und Streben wäre sinnlos.
In den Nachkommen weiterleben? Ich nenne sowas Besessenheit, na herzlichen Dank denn auch, denn die haben ihr eigenes Leben. In den Werken? Lieber nicht, denn alles Irdische ist vergänglich. In der Erinnerung? Und was, wenn die sich Erinnernden auch irgendwann sterben?
Ich möchte hier nicht als religiös überheblich wahrgenommen werden, das Christentum ist keine Religion, sondern eine Liebesbeziehung Gottes zum Menschen – und im besten Falle auch umgekehrt, jeder Mensch kann diese Beziehung haben, da habe ich kein Alleinstellungsmerkmal. Gottes Arme sind weit offen, er hat seinen Sohn geschickt, um uns das klar zu machen. Die christliche Heilsgewissheit ist eine so absolute Realität für mich, dass andere Optionen undenkbar erscheinen und für mich ausgeschlossen sind.
Mein Vater sah das genauso. Deswegen auch wollte er lieber eine große Party am Sarg (die gab es nicht) und bunte Kleidung bei der Auferstehungsmesse, und ein wenig in die Richtung hat er es auch bekommen außer ein paar Verneigungen an die Konventionen, und mit dem Halleluja aus dem Messias von Händel und lauter Osterliedern voll Zuversicht bei der Messe. SO wollte er eine Totenfeier, Ostern, Auferstehung und nicht Karfreitag, Grabestrauma.
Natürlich brauchen meine Mutter und ich eine Erholungsphase von den Strapazen der vergangenen Jahre, wir müssen wieder richtig leben lernen, das geht nicht von heute auf morgen. Und er wird in vielen Dingen fehlen, aber das wird die Zeit heilen.
Deswegen sage ich: Machs gut Papa, auf Wiedersehen im Himmel!

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